Die zunehmende Naturentfremdung unserer Gesellschaft macht auch vor den Kindern nicht halt. Doch neue Erkenntnisse aus Hirnforschung und Entwicklungspsychologie belegen: Kinder brauchen Natur für die freie Entwicklung ihrer Persönlichkeit.
„Oh schau mal, ein Riesenkäfer - das ist ja eklig!“ Die sechsjährige Pia starrt mit aufgerissenen Augen auf einen Hirschkäfer, der gerade auf dem Weg vor ihr krabbelt. Einige Kinder kommen näher, schauen ängstlich oder staunend auf das unbekannte Wesen vor ihnen. Die Kursleiterin Heike R., Biologin und Waldpädagogin am Waldklassenzimmer Karlsruhe, nähert sich der Gruppe und erklärt geduldig, um welchen Käfer es sich handelt, dass er völlig ungefährlich und sogar sehr selten ist. Danach trauen sich einige Kinder sogar, sich den Käfer über die Hand krabbeln zu lassen. Doch die meisten bleiben skeptisch.
„Das ist heutzutage ganz typisch für Kinder“, berichtet Heike R., die schon seit vielen Jahren Schulklassen und andere Gruppen durch den Hardtwald in Karlsruhe führt. Die meisten Kinder seien sehr ängstlich und ekelten sich vor allem, was da krabbelt. „Manche trauen sich im Wald gar nicht, die Wege zu verlassen“, meint die Waldpädagogin. „Viele Kinder waren vorher noch nie richtig im Wald. Oder die Eltern haben im Vorfeld das Kind gewarnt, ja nicht die Wege zu verlassen, da das im Wald zu gefährlich ist, es könnten ja Zecken und andere unvorhersehbare Gefahren lauern. Und diese Entfremdung von der Natur nimmt immer mehr zu.“
Die Naturferne der Kinder treibt bisweilen kuriose Blüten: „Normalerweise sollten die Kinder ein Vesper und ein Getränk dabei haben, wenn wir Waldtag haben“, erzählt Heike R., „vor einigen Wochen, als wir auf unserer Tour den Rastplatz mitten im Wald erreicht hatten, kam eines der Kinder zu mir, streckte mir eine Zwei-Euromünze entgegen und wollte wissen, wo denn hier der Automat für Getränke und Süßigkeiten wäre.“
Indoor- statt Outdoor-Kindheit
Der Alltag der meisten Kinder ist heute überwiegend verplant und findet zum größten Teil in geschlossenen Räumen statt. Der Schwerpunkt der Erziehung liegt auf der Vermittlung von Bildung. In Sorge um die berufliche Zukunft ihres Nachwuchses versuchen viele Eltern ihre Kinder bereits im Vor- und Grundschulalter mit möglichst zukunftsträchtigem Wissen zu bilden. Neben Englisch und Chinesisch sind dabei auch Computerkurse bereits im Kindergartenalter keine Ausnahme mehr. Auch das Spielen und Kommunizieren findet häufig über die elektronischen Medien statt. Es gibt kaum mehr ein Grundschulkind, das kein Smartphone oder Tablet besitzt und für viele Kinder ist das die typische Nachmittagsbeschäftigung. Freie Zeit zum Spielen draußen bleibt da kaum noch. Der Kontakt zur Natur ist minimal. Auch viele Schulhöfe sind einheitlich betoniert und umzäunt, meist gibt es nur wenige Büsche und Bäume, selten mal einen Schulgarten.
Unsere Großeltern und teilweise auch noch unsere Eltern wuchsen in direktem Kontakt mit der Natur auf. Draußen spielen war normal, auf dem Land und in der Stadt. Die Kinder erkundeten ohne Aufsicht und Überwachung ihre Umgebung, Nachmittage lang und oft in großen Entfernungen. Die typischen Spiele blieben über viele Generationen gleich, z.B. Räuber und Gendarm, Lagerbauen und Bandenrivalitäten; Spiele die aus der langen Kulturphase stammen, in denen der Mensch noch unmittelbar in die Natur eingebunden war.
Heutzutage sind Eltern deutlich ängstlicher geworden: Die Distanz, in der sich Kinder frei von zuhause wegbewegen dürfen, hat sich während der letzten Jahrzehnte kontinuierlich verringert, heute dürfen viele kaum mehr allein vor die Tür. Oft werden sie noch mit dem Auto in die Schule gefahren.
Naturentfremdung statt freiem Spielen
Die heutige Kindergeneration wird von Eltern und Lehrern erzogen, die selbst in den 70er und 80er Jahren aufwuchsen. Damals ging es der Umweltbewegung vor allem darum, die bedrohte Natur zu schützen. Der Mensch wurde vorwiegend als Störfaktor betrachtet. Diese Einstellung ist heute noch bei vielen Eltern und Lehrern vorherrschend. So berichtet der Physiker und Naturpädagoge Rainer Brämer im Jugendreport Natur 2003, dass viele Jugendliche das Betreten des Waldes und das Übernachten unter seinen Kronen für schädlich halten. Brämer schreibt: „Die nächste Generation hat die Zeigefingermoral der forstlichen Interessengruppen schon so weit verinnerlicht, dass sie sich selbst auszusperren beginnt.“ Die Naturentfremdung verstärke sich damit gewissermaßen selber. Tatsächlich vermittelt auch der heutige Naturschutz immer noch das Bild einer Natur, die den Menschen und die Nutzung der Natur überwiegend ausschließt.
Und auch wenn Kinder am Wochenende mit ihren Eltern mal einen Ausflug in die Natur machen, besuchen sie häufig angelegte Erlebnispfade, bei denen sie einen vorgegebenen Weg ablaufen, oft noch durch einen Zaun begrenzt. Eigene spontane Erfahrungen mit den Pflanzen, Tieren und der Erde sind so nicht möglich. Die Natur bleibt eine fremde Umgebung und die Kinder nehmen sich nicht mehr als ein Teil von ihr wahr. Es ist paradox: Oft wissen Kinder genau über globale Gefahren wie Ozonloch oder Klimaerwärmung Bescheid, kennen aber gleichzeitig die Natur vor ihrer Haustür nicht.
Psychische Störungen durch Reizüberflutung
Die gegenwärtige Häufung psychischer und emotionaler Störungen bei Kindern ist Gegenstand vieler wissenschaftlicher Untersuchungen. Mittlerweile verdichten sich die Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem Fehlen von elementarer Naturerfahrung. Der berühmte amerikanische Journalist und Autor Richard Louv hat bereits in seinem 2005 in den USA erschienenen, sehr populären Werk “Last Child in the Woods“ die Theorie aufgestellt, dass Kinder heutzutage immer weniger Zeit in der Natur verbringen und dass sich dadurch zahlreiche Verhaltensprobleme entwickeln.
Die Suche nach dem Zusammenhang zwischen Naturerfahrung und Psyche führt in die Gehirnforschung. Innerhalb der letzten 50 Jahre hat sich das menschliche Umfeld radikal geändert. Doch neurologisch sind wir noch lange nicht an die überstimulierende Umgebung der Moderne angepasst. Unsere Gehirne und der gesamte Wahrnehmungsapparat sind geprägt durch zehntausende von Jahren mit Leben, Arbeiten und Spielen draußen in der Natur. "Unser Hirn ist geschaffen für eine agrarische, naturorientierte Existenz", schreibt der amerikanische Familientherapeut Michael Gurian.
Durch die unnatürliche Reizüberflutung kommen die Botenstoffe zur Signalübertragung im Gehirn aus dem Gleichgewicht. Dies führt dazu, dass das Gehirn auf zu viele Reize gleichzeitig reagiert. Den Kindern wird es fast unmöglich, sich auf nur eine Sache zu konzentrieren. 20 bis 30 % dieser Kinder reagieren nach Richard Louv mit psychischen Problemen und entwickeln Krankheiten wie ADS, ADHS oder auch Depressionen. Manche der Kinder bekommen Psychostimulanzien oder Antidepressiva, um das Ungleichgewicht der Botenstoffe zu regulieren. Doch der Einsatz dieser Medikamente ist umstritten.
Eine Dosis Natur statt einer Dosis Ritalin
Richard Louvs Untersuchungen zeigen, dass ein durchdachter Einsatz von Naturerfahrungen eine ebenso effektive Therapieform für Jugendliche sein kann, die an psychischen Störungen leiden. Er greift dabei auch auf seine eigenen Kindheitserlebnisse zurück. „Die Wälder waren mein Ritalin“, schreibt Richard Louv über sich selbst. Die freie Berührung mit der wilden Natur bewirkte bei dem überaktiven Kind wahre Wunder.
Eine interessante Studie von Wissenschaftlern um Faber Taylor an der US-University von Illinois zeigt, dass ein Aufenthalt in der Natur die Konzentrationsleistungen von Kindern mit ADHS bedeutend verbessern kann. Getestet wurden Kinder mit AHDS im Alter von sieben bis zwölf Jahren. Sie machten alle einen zwanzigminütigen Spaziergang, entweder in der Innenstadt, in der direkten Nachbarschaft herum oder in einem Park. Anschließend absolvierten die Kinder einen einfachen Konzentrationstest. Dabei erzielten die Kinder, die einen Parkausflug hinter sich hatten, die besten Ergebnisse. Die Wissenschaftler verglichen die Effekte der Dosis Natur mit denen eines Medikaments. Überraschendes Ergebnis der Studie: Die Dosis Natur hatte einen gleichen oder sogar einen größeren Effekt wie die Medikation.
Der deutsche Kinderarzt und Autor Dr. Herbert Renz-Polster bestätigt die positiven Effekte von Naturerfahrungen: „Zeit in der Natur ist Entwicklungszeit für Kinder. In der Natur können Kinder selbst gestalten und experimentieren, Abenteuer und Freiheit erleben.“ Er betont aber, dass die Natur auch Grenzen setze. So würden Kinder lernen, mit dem Scheitern klarzukommen und Hindernisse selbständig zu überwinden. Seine Quintessenz lautet: „Ohne die Reizüberflutung der Medienwelt werden die Wahrnehmungen wieder realistisch und die Kinder entwickeln spontane Kreativität.“ Rainer Brämer zieht in seiner 2007 veröffentlichten Studie „Natur ohne Kinder?“ den Schluss, dass Kinder mit frühen, andauernden Naturkontakten ihren „naturfernen“ Altersgenossen in intellektueller, physischer und spiritueller Hinsicht überlegen sind.
Diese positiven Effekte wirken über die Kindheit hinaus. Viele besonders produktive oder künstlerische Menschen führen ihre schöpferischen Energien auf intensive und beglückende Kindheitserlebnisse mit Tieren und Pflanzen zurück. Die amerikanische Pädagogin und Autorin Edith Cobb folgerte daraus, dass Naturerfahrungen in der Kindheit zu einer intensiveren Wahrnehmung und psychischen Ausgeglichenheit im Erwachsenenalter führen.
Der deutsche Biologe und Philosoph Andreas Weber beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit der Bedeutung der Natur für Kinder. Sein Bestseller „Mehr Matsch!“ ist ein Plädoyer für mehr Natur in der Kindheit und für eine Abkehr vom permanenten Leistungs- und Effizienzdenken. Ohne intensive Kontakte zu Tieren und Pflanzen verkümmere die emotionale Bindungsfähigkeit und nicht zuletzt auch die Lebensfreude der Kinder. Weber schreibt: „In der Kindheit einen Zugang zur Natur zu finden, bedeutet, das Gefühl von Heimat zu entwickeln, Wurzeln auszubilden. Diese Wurzeln bedeuten die Fähigkeit, die Lebendigkeit der Biosphäre als eigenes Lebensglück zu empfinden.“
Brachflächen als wunderbare „wilde“ Spielplätze
Die Umsetzung dieser Erkenntnisse in unser alltägliches Leben findet nur allmählich statt. Waldkindergärten setzen dieses Wissen schon seit langem in die Praxis um, immer mehr Schulen gestalten ihre Schulhöfe natürlicher. Mit nachweisbaren Erfolgen: Nach Andreas Weber sind Kinder von Schulen mit natürlich gestaltetem Gelände im Schnitt aktiver, ernährungsbewusster, umgänglicher und kreativer.
Doch auch Stadtplaner und Gemeinden können etwas beitragen. Manchmal reicht es aus, beispielsweise beim Planen öffentlicher Parks, einfach einen Teil der Flächen brach liegen zu lassen, nicht jeden Winkel auszunutzen. Solche Brachflächen können für Stadtkinder ein wunderbarer Spielplatz werden. Je natürlicher und wilder die Umgebung, desto größer der Effekt. Ein bereits umgesetztes Beispiel findet sich im Rahmen der Internationalen Bauausstellung IBA Emscher-Park. In der Biologischen Station im östlichen Ruhrgebiet werden den Kindern innerstädtische Brachflächen als „wilde“ Freiflächen zum unreglementierten Spiel zur Verfügung gestellt.
Im Waldklassenzimmer Karlsruhe weiß man schon lange um die heilsame Wirkung der Natur: Die Gruppe um Heike R. hat sich inzwischen zum Abschluss-Picknick auf einem Holzstapel niedergelassen. Die Kinder sind entspannt und erzählen mit leuchtenden Augen von den Abenteuern des Tages. Heike R. freut sich: „Es ist schon ein gelungener Waldtag, wenn die Kinder einfach nur im Wald spielen, sich und die Zeit vergessen, spontan und kreativ sind. Wenn sie dabei auch noch ein Stück ihrer Heimat näher kennengelernt haben, umso besser.“