Ein beißender Rauchgeruch steigt mir in die Nase. Überall um mich herum wehen rot-silberne Fahnen aus Glanzpapier, weißer Nebel begrenzt meine Sicht auf wenige Meter. „Allez, FC Bayern“, brüllen die hunderten Menschen um mich herum. Ganz leise kann ich eine metallene Stimme wahrnehmen, die aus den Lautsprechern um mich herum dringt: „Eine Mitteilung für die Gästefans. Das Abbrennen von Pyrotechnik ist im Stadion verboten.“
Die Fans des FC Bayern im Gästeblock der Mainzer Coface-Arena interessiert diese Durchsage jedoch nicht. Für sie zählt nur eins: ihre Mannschaft an diesem Dezember-Abend über 90 Minuten zu unterstützen und sie zum Sieg zu brüllen. Und ich bin ein Teil von ihnen. Obwohl ich seit meiner Kindheit ein riesiger Fußball-Fan bin, verfolge ich zum ersten Mal eine Bundesliga-Partie aus einem Stehplatz-Block. 90 Minuten lang fühle ich mich auch als einer der treuesten Fans, die ihre Mannschaft pausenlos anpeitschen, komme was wolle. 90 Minuten lang bin ich ein Ultra.
Umgeben von Schickeria, Inferno Bavaria und Co.
Porto, St. Petersburg und Mailand: den Männern um mich herum ist für ein Fußballspiel kein Weg zu weit. Um den FC Bayern München zu unterstützen, fahren sie tausende von Kilometern, auch unter der Woche. Die Anhänger des deutschen Fußball-Rekordmeisters, die immer bei Spielen dabei sind, stammen von Fanclubs wie Schickeria München, Inferno Bavaria und Alarmstufe Rot. Und ich stehe mitten unter ihnen.
Dass ich Journalist bin, erwähne ich an diesem Abend nicht. Ich möchte sie auf der gleichen Ebene kennenlernen: als Fan. Und während ich gerade an meinem Bier nippe, komme ich gleich mit einem Mitglied der Schickeria München ins Gespräch. Er heißt Martin, kommt aus der bayerischen Landeshauptstadt und verteilt bunte Fahnen an die Fans im Mainzer Gästeblock. „Versteck die erstmal unter der Jacke. Wir holen sie heraus, sobald die Mannschaften auf´s Feld kommen“, erklärt er mir. Diese Ansagen gilt es, einzuhalten. Ein Fan, der neben mir die Fahne aufrollen will, erhält eine klare Ansage: „Hörst du schlecht? Erst bei Spielbeginn auspacken!“
Innerhalb der Münchner Kurve gibt es klare Regeln. Martin erklärt mir, warum: „Der Kern unserer Kurve kommt aus München. Wir verbringen unter der Woche viele Stunden damit, solche Aktionen wie mit den Fahnen vorzubereiten.“ Schickeria, Inferno Bavaria und Co. investieren viel Freizeit, eigenes Geld und Herzblut, um ihre Mannschaft auch mit bunten Choreographien zu unterstützen. „Da wollen wir natürlich, dass die Leute auch so mit den Sachen umgehen, wie wir das geplant haben“, fügt er hinzu. Dann muss er auch schon weiterziehen. Noch etliche Fahnen warten darauf, in dem Block verteilt zu werden.
Die Anführer der Südkurve
Die Schickeria München, bei der Martin Mitglied ist, gibt es seit 2002. Sie dient als eine Plattform vor allem für jüngere Fans, die an dem Thema Ultra und dem FC Bayern München interessiert sind. Der Spaß, gemeinsam den Lieblingsverein nach vorne zu peitschen, steht in der Gruppierung im Vordergrund. Die Schickeria sieht sich als führende Gruppe und will bei Auswärts- und Heimspielen des FC Bayern für eine bessere Stimmung sorgen. Der Fanclub sieht sich somit als Sprachrohr der Südkurve – so nennt sich die vereinte Stehplatzkurve in München.
Einfach Mitglied werden kann man bei der Schickeria nicht. Wer gemeinsam mit dem Fanclub den FC Bayern unterstützen will, muss sich erst beweisen. Er muss zeigen, dass er bei Spielen des deutschen Rekordmeisters alles für seinen Verein gibt, dass er die Ziele und Werte der Ultra-Gruppierung verinnerlicht hat.1 Ein wenig erinnern die Aufnahmerituale der Schickeria an einen elitären Club für besonders begabte oder reiche Menschen. Nur mit dem Unterschied, dass es hier um einen Fußball-Fanclub geht. Das verdeutlicht, wie viel Herzblut die Mitglieder der Schickeria in die Aufgabe stecken, ihren Lieblingsverein zu unterstützen.
Und plötzlich kam der Rauch
Als dann die Mannschaften des FSV Mainz 05 und des FC Bayern München den Rasen der Coface-Arena betreten, kommt die Choreographie der Schickeria München endlich zum Einsatz. Hunderte Fans schwenken die Fahnen, dazu werden Banner hochgehalten, auf denen „Bayern München“ steht sowie das Logo des Vereins und das Wappen der Stadt München zu sehen sind. Und im Schutze dieser Banner zünden einige vermummte Fans Pyrotechnik.
Obwohl ich nur wenige Reihen hinter diesen Männern stehe, kann ich nicht sagen, welche Personen die Feuerwerkskörper angezündet haben. Zu gut verstecken sie sich hinter dem Banner und unter ihrer Kleidung, zu schnell ist der gesamte Block von Rauch überzeugen. Einen Moment später blinken bunte Leuchtfackeln auf, vor meinen Augen erscheint ein rot-weißes Farbenmeer. Pyrotechnik ist in deutschen Fußballstadien zwar verboten – das kümmert in diesem Moment jedoch keinen. Und auch ich muss zugeben: Kombiniert mit den lauten Anfeuerungsrufen für den FC Bayern München, den Fahnen, dem Rauch und den blinkenden Fackeln entsteht eine Stimmung, die bei mir Gänsehaut auslöst.
Die Polizei ist machtlos
Außer dem Abrennen der Pyrotechnik bleibt das Spiel zwischen dem FSV und den Bayern aber über 90 Minuten ruhig. Keine Schlägereien, keine Pöbeleien, keine Verletzte. Ein ruhiger Arbeitstag für die hunderten von Polizisten, die wie bei jedem anderen Bundesligaspiel auch in Mainz im Einsatz waren.
„Pyrotechnik ist für uns noch das kleinste Problem“, sagt Tobias Stutz, der für die Polizei in Nordrhein-Westfalen im Einsatz ist. Gemeinsam mit seinen Kollegen rückt er fast jedes Wochenende zu einem Fußballspiel aus und sorgt dort für Sicherheit. „Da sind wir auch ein wenig machtlos. Teilweise führen sich die Fans Pyrotechnik auch in Körperöffnungen ein und schmuggeln sie so ins Stadion. Da findet man auch beim Abtasten nichts“, führt er weiter aus.
Ich erinnere mich zurück: Die Personenkontrollen in Mainz waren die strengsten, die ich je über mich ergehen lassen musste. Am ganzen Körper wurde ich intensiv abgetastet, jeder einzelne Gegenstand wurde kontrolliert. Zwischendurch musste ich sogar darum bangen, mein Schnupfenspray ins Stadion mitnehmen zu dürfen. „Wo ein Wille ist, ist halt auch ein Weg“, antwortet Stutz auf die Frage, wie man trotz dieser Kontrollen Pyrotechnik in ein Stadion bringt.
Solange niemand verletzt wird, ist er noch halbwegs gelassen, wenn er sieht, dass in einem Fanblock Pyrotechnik gezündet wird. Schlimmer findet er den enormen Hass und die Gewalt, die er bei manchen Spielen erleben muss. „Das ist vor allem bei Hochsicherheitsspielen der Fall, also wenn zwei Rivalen oder verfeindete Fan-Gruppierungen aufeinander treffen“, sagt Stutz. Als Beispiel nennt er das Spiel zwischen dem FC Kaiserlautern und dem Karlsruher SC. „Die Fans der Vereine hassen sich, dieser Hass schlägt dann auch der Polizei entgegen. Bei dem Einsatz wurden wir mit Steinen, Flaschen und sogar Beuteln mit Urin und Tierblut beworfen“, erzählt Stutz mit einem traurigen Blick. Auch Sätze wie „Ich bringe dich um, du scheiß Bulle“ musste er sich laut eigener Aussage mehrfach anhören. Und trotzdem macht ihm sein Job Spaß: „Solche Einsätze hat man ja nicht jedes Wochenende. Da muss man drüberstehen.“
Nach zwei Minuten läuft der Schweiß
Gott sei Dank ist die Stimmung in Mainz friedlich. Nachdem sich der Rauch der bunten Choreographie verzogen hat, greift der Capo zum Megafon. Als Capo bezeichnet man den Vorsänger in einem Fanblock, der den Leuten vor ihm ordentlich einheizt. Er steht mit dem Rücken zum Spielfeld, vom Fußball bekommt er so gut wie nichts mit. Egal – Hauptsache die Stimmung passt.
Einhaken, in die Knie gehen, lauter und leiser: der Capo gibt den Fans im Block vor, was sie tun sollen. Und als ich mit den fremden Männern neben mir eingehakt hüpfe und gleichzeitig ein Loblied auf den FC Bayern aus tiefster Kehle schmettere spüre ich, wie mir der Schweiß von der Stirn tropft. Mir wird bewusst: Ein Ultra zu sein bedeutet mehr, als ein paar Liedchen zu singen. Es bedeutet vollen Einsatz und ist alles andere als erholsam.
Trotzdem macht es unglaublichen Spaß. Bis zur Halbzeit werden alle fünf Minuten neue Lieder vorgegeben, als der Schiedsrichter auf dem Platz die Pause einläutet, bin ich dankbar. 45 Minuten singen, hüpfen und klatschen liegen hinter mir. Ich muss erstmal verschnaufen, Kräfte sammeln, zur Ruhe kommen. „Leute, in der zweiten Halbzeit geht das noch viel besser“, brüllt der Capo durch sein Megafon. Ich atme tief durch. Entspannter werden die zweiten 45 Minuten wohl nicht.
Gewalt, Hass und Prügeleien – nur ein Klischee
In der Öffentlichkeit haben Ultras keinen guten Ruf. Ende Februar stürmten Kölner Anhänger beim Spiel in Mönchengladbach den Platz2, in Dortmund trafen Ultras des BVB und von Eintracht Frankfurt in der Stadt aufeinander, die Polizei musste eingreifen3. Vorfälle wie diese sorgen dafür, dass Ultras in der Öffentlichkeit als gewaltbereit und brutal gelten. „Unser Ziel ist es nicht, Gewalt auszuüben. Wir wollen unsere Mannschaft feiern, mehr nicht. Leider wird diese Tatsache oftmals vergessen“, sagt mir ein Bayern-Fan, der eine Reihe vor mir steht. Er heißt Daniel, kommt ebenfalls aus München und reist zu fast jedem Spiel des deutschen Rekordmeisters.
„Man muss viel mehr zwischen Ultras und Hooligans differenzieren. Ultras unterstützen ihren Verein, Hooligans sind auf Prügeleien aus. Für die Presse sind wir aber alle gleich“, fügt er hinzu. Zu keinem Zeitpunkt zweifele ich daran, dass er die Wahrheit sagt. Obwohl ich zum ersten Mal zwischen den Ultras stehe, fühle ich mich sofort heimisch. Jeder im Block, mit dem ich mich unterhalte, ist nett und zuvorkommend. Mit jedem kann man sich gut unterhalten, Kontakte lassen sich schnell knüpfen. Die Stehplatzkurve wirkt fast wie eine große Familie. Von Gewaltbereitschaft und Hass keine Spur.
Arm in Arm mit den Fremden
Dann geht auch schon das Spiel weiter. Der Capo gibt weiter den Takt vor, wie auch im ersten Durchgang wehen unzählige riesige Fahnen vor mir, die mir ab und zu die Sicht auf das Spiel versperren. Mittlerweile macht mir das jedoch nichts mehr aus. Ich bewege mich mit der Meute um mich herum mit, bin ein Teil von ihr geworden, feuere nur noch meine Mannschaft an. Was anderes zählt für mich nicht mehr. Selbst die anfängliche Erschöpfung aus der ersten Halbzeit spüre ich nicht mehr.
Als dann der Münchner Arjen Robben in der 90. Minute das entscheidende Tor zum 2:1-Sieg für die Bayern schießt, brechen in dem Gästeblock alle Dämme. Von oben bekomme ich unzählige Bierdurschen, ich liege fremden Männern in den Armen, drücke sie an mich und schreie meine Freude über den Sieg hinaus. Dass ich hier niemanden kenne? Egal. Gefühlt sind wir alle eins: Eine Gemeinschaft mit derselben Liebe, dem FC Bayern.
Als dann die Mannschaft vor den Block kommt, sich für die Unterstützung bedankt, stehe ich mit vielen anderen Fans auf dem Zaun des Blocks, singe vor Begeisterung im Chor und bejubele meine Helden auf dem Rasen. Die Euphorie hat vollkommen Besitz von mir ergriffen.
Als ich später im Zug sitze, umgeben von anderen glücklichen Fans, rekapituliere ich in einer ruhigen Minute die letzten Stunden. Im Fernsehen werden Ultras oftmals als brutale, hirnlose Fußballfans dargestellt, die nur auf Krawall aus sind. Leider gibt es auch solche Menschen. Die Ultras, die ich an diesem Tag im Stadion kennenlernen durfte, zeigten mir jedoch, wie schön die bedingungslose Liebe für einen Verein sein kann, wie sehr die Begeisterung für den Sport verbindet. Und ich fasse für mich den Entschluss: Das Spiel in Mainz wird nicht das letzte gewesen sein, bei dem ich in der Kurve meinen Verein zum Sieg schreie.