Beirut. Zu Beginn ist da ein Abflussrohr. Ein Rohr, das das Wasser vom Balkon des Libanesen Toni Hanna (Adel Karam) ableiten soll. Doch es ist falsch gesetzt, ragt auf die Straße hinaus. Das überschüssige Blumenwasser ergießt sich über dem palästinensischen Flüchtling Yasser Salameh (Kamel El Basha), der als Vorarbeiter die Straßenarbeiten im Distrikt koordiniert. Yasser bietet Toni an, den Abfluss zu reparieren. Doch dieser stellt sich quer: Die Leute sollen eben die Straßenseite wechseln. Yasser lässt sich nicht beirren und verlegt den Abfluss neu. Doch kaum ist er damit fertig, zerschlägt Toni das Rohr mit einem Hammer. Seine Wut, seine Aggression brauchen ein Ventil – das, was die Begegnung mit dem Palästinenser in ihm ausgelöst hat, kann man nicht so einfach fixen.
„Scheißkerl!“, bricht es aus dem sonst eher zurückhaltend wirkenden Yasser heraus. Toni verlangt eine Entschuldigung und informiert Yassers Vorgesetzten Talal (Talal El Jurdi) über den Vorfall, droht mit einer Klage. Talal setzt alles daran, um den Streit beizulegen und verlangt von seinem Mitarbeiter, dass er sich bei Toni entschuldigt. Doch dazu soll es nicht kommen: Als die beiden Männer Toni in seiner Autowerkstatt aufsuchen, verfolgt dieser gerade eine Hetzrede des verstorbenen FL-Gründers Bachir Gemayel im TV. Angestachelt von den rechten Parolen gegen Flüchtlinge und der stolzen Miene Yassers, beschimpft Toni seinen Kontrahenten am darauffolgenden Tag. Seine Diffamierungen gipfeln in dem Satz: „Weißt du was: Sharon hätte euch alle eliminieren sollen.“ Yasser verliert bei diesen Worten die Beherrschung und schlägt Toni zu Boden.
„Genau so entstehen Kriege.“
Christ gegen Moslem, Libanese gegen Palästinenser. In seinem oscarprämierten Parabelstück führt Drehbuchautor und Regisseur Ziad Doueiri vor, wie schnell sich Konflikte verselbstständigen können. Es beginnt mit einem unbedeutenden Streit, der später ein ganzes Land in Aufruhr versetzen soll. Die beiden Männer ahnen nicht, was sie da losgetreten haben. Er wolle doch lediglich eine Entschuldigung, betont Toni immer wieder. Er ignoriert die Worte seines Vaters, der ihm sagt, er liege falsch. „Genau so entstehen Kriege“, warnt ihn der alte Mann. Doch Toni, dessen Identität sich sonst so sehr aus dem christlichen Glauben speist, ist unfähig, zu verzeihen: „Bin ich Jesus, der auch noch die andere Wange hinhält, wenn man ihn schlägt?“
Yasser hat Toni zwei Rippen gebrochen, der Fall landet vor Gericht. Die Anklage lautet auf Körper- und Ehrverletzung. Doch obwohl Yasser sich schuldig bekennt, spricht ihn der Richter frei. Denn er hat durchschaut, dass mehr hinter dem Streit steckt: „Ich glaube nicht, dass ein Abfluss der Grund für all das hier gewesen ist“, gibt er zu bedenken und weist die Klage ab. Zudem habe Toni bereits mit dem illegalen Abfluss und der Zerstörung des neuen Rohrs das Gesetz gebrochen. Toni und seine Unterstützer werfen dem Richter vor, zugunsten des Palästinensers geurteilt zu haben.
Eines Nachts schreckt er aus einem Albtraum hoch. Obwohl ihm der Arzt ein Arbeitsverbot erteilt hat, geht er in seine Werkstatt und macht sich dort zu schaffen. Beim Heben eines schweren Gegenstands bricht er plötzlich zusammen. Seine hochschwangere Frau Shirine (Rita Hayek) findet ihn auf dem Boden liegend und schleppt ihn zum Auto; kurz darauf hat sie eine Frühgeburt. Das Überleben des Kindes ist ungewiss. Aufgrund dieser Kettenreaktion strengt Toni einen weiteren Prozess gegen den Palästinenser aus dem Flüchtlingslager an, in dessen Verlauf die wahren Beweggründe für die Auseinandersetzung ans Licht kommen sollen.
„Das Ergebnis einer Wunde, die niemals geheilt ist.“
Den beiden Männern entgleitet immer mehr die Kontrolle über ihre Streitsache, andere nutzen sie als Mittel, um ihre politischen Interessen durchzusetzen. Ein Journalist schleicht sich in die Verhandlung, berichtet über den Fall. Das Video, das er heimlich im Gerichtssaal aufgezeichnet hat, facht den Hass zwischen Palästinensern und Libanesen an. Es kommt zu Unruhen und Krawallen im Land. Denn obwohl der libanesische Bürgerkrieg 1990 endete, fand im Folgenden keine Auseinandersetzung mit den traumatisierenden Ereignissen statt. Unter der Oberfläche brodelt es weiter – zu vieles wurde verdrängt und verschwiegen. Alle Beteiligten bekamen damals einen Freispruch, doch der Frieden ist nicht bis in die Köpfe der Menschen vorgedrungen.
15 Jahre hatten die Kämpfe im Libanon angedauert. Der Einzug der aus Jordanien vertriebenen Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) im Jahr 1970 ging als Schwarzer September in die Geschichte des Libanons ein. Die PLO verbündete sich mit den arabischen Nationalisten gegen die westlich orientierten Christen; die Spannungen gipfelten immer wieder in Anschlägen und Massakern. Fünf Jahre später brach der Bürgerkrieg aus, in dem die muslimischen Milizen und die christliche Phalange-Miliz ihre Kämpfe austrugen.
Der Libanon auf der Couch
Doueiri inszeniert seine Geschichte als analytisches Drama. Behutsam verwebt er die Geschichte seiner Protagonisten, bis sie sich schließlich im jeweils anderen erkennen. Dies zeigt sich nicht nur an der Vorliebe der beiden handwerklich begabten Männer für deutsche und italienische Qualitätsware, die einfach mehr taugt als chinesische Plagiate. Besonders eindrücklich ist die Szene, in der Toni und Yasser gemeinsam das Gerichtsgebäude verlassen und sie in ihre Wägen steigen. Beide bewegen sich spiegelbildlich zueinander, erscheinen wie das andere Ich des Gegenübers. Darauf folgt auch der Moment, in dem sie sich das erste Mal aufeinander zubewegen: Während Yasser sich über seine geöffnete Motorhaube beugt, weil das Auto nicht anspringen will, macht Toni kehrt und stellt ihm die Zündung ein.
Sowohl der Beiruter Comedian Karam als auch der palästinensische Theatermann El Basha glänzen in ihren Rollen. Für seine Verkörperung des Yasser Salameh erhielt El Basha 2017 bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig die „Coppa Volpi“ als „Bester Darsteller“. Die Leistung der beiden Hauptdarsteller liegt darin, dass sie die innere Wandlung ihrer Figuren ohne viele Worte erlebbar machen. Während El Basha allein mit seiner Mimik den stolzen und eigensinnigen Charakter von Yasser durchscheinen lässt, entwickelt sich Karams Figur vom hitzköpfigen Aggressor zum abgeklärten, stillen Verbündeten.
Die Hoffnung des Landes
Den männlichen Egos setzt Doueiri starke Frauenfiguren entgegen. „Man würde sich wünschen, dass die arabische Welt eines Tages von Frauen geführt wird“, so der Regisseur. Und so macht auch sein Film klar: Die Zukunft ist weiblich. Die Frauen fordern Versöhnung, bilden den vernünftigen Gegenpol. Die Frage danach, wer den Streit begonnen hat, ist für sie nicht erheblich. Yassers Frau Manal (Christine Choueiri) besteht darauf, dass sich ihr Mann bei Toni entschuldigt: „Du hast jemanden beleidigt, regle das!“, fordert sie von ihm. Und während Toni behauptet, er strenge den Prozess allein für seine Familie an, entgegnet ihm Shirine: „Der Einzige, für den du das tust, das bist du.“ Und sie wirft ihrem Ehemann vor: „Du machst alles um dich herum kaputt!“ Toni bleibt stur: „Es geht um die Wahrheit.“ Doch seine Frau kontert: „Welche Wahrheit, Toni?“
Die neugeborene Tochter des Ehepaars Hanna hat die Schrecken des Krieges nicht miterlebt, ebenso wenig wie Nadine (Diamand Abou Abboud), die Tochter von Tonis Anwalt, die Yasser unentgeltlich verteidigt. Als Vertreterin der jungen Generation kämpft sie nicht verbittert gegen die alten Feinde an, sondern blickt in die Zukunft. Von ihrem Vater, dem christlich-konservativen Wajdi Wehbe (Camille Salameh), distanziert sie sich mit den Worten: „Für dich ist alles immer eine Schlacht. Aber ich bin nicht im Krieg aufgewachsen. Ich hab nicht all das durchgemacht, was du durchgemacht hast. Ich bin nicht wie du.“
DER AFFRONT ist ein humanistisch geprägter Film, der an das Gute im Menschen glaubt, der Versöhnung für möglich hält. Angesichts der derzeitigen weltpolitischen Entwicklungen, angesichts der Provokationen eines Donald Trumps, der Flüchtlingsdebatte und dem Rechtsruck in der europäischen Gesellschaft, erstreckt sich seine Botschaft weit über die Grenzen des Libanons hinaus.
Der Film läuft ab dem 25. Oktober 2018 in den deutschen Kinos.
Filmbesprechung von Carolin Hirth